Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

In insgesamt vier Reformstufen ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG) zwischen 2017 und 2023 in Kraft getreten. Das Gesetz soll das Leben für Menschen mit Behinderungen durch mehr Teilhabe an der Gesellschaft und Selbstbestimmung verbessern. Wie klappt die Umsetzung des BTHG in der Praxis?

Text: Sophia Schalthoff
„Ob mit oder ohne Behinderung – wir sind doch alle in erster Linie Menschen. Und so möchte ich auch in meiner Arbeit den Menschen hier begegnen“, sagt Petra Meyer-Eppa, Leiterin der AWO-Wohnstätte in Marl. Foto: Christian Kuck

„Ich bin eine absolute Verfechterin der Rechte für Menschen mit Behinderung“, sagt Petra Meyer-Eppa mit voller Überzeugung. Die 52-Jährige leitet seit sechs Jahren die Wohnstätte in Marl. 29 Bewohner:innen sowie zehn weitere Bewohner:innen in der Außenwohnung gegenüber sind mit Einführung des BTHG nicht mehr einfach Bewohner:innen, sondern Leistungsberechtigte. „Ist das nicht ein schreckliches Wort?“, fragt Petra Meyer-Eppa und schüttelt den Kopf. „Ob mit oder ohne Behinderung – wir sind doch alle in erster Linie Menschen. Und so möchte ich auch in meiner Arbeit den Menschen hier begegnen.“ Man spürt sofort, dass das nicht nur leere Worte sind, sondern hier in der Wohnstätte auch so gelebt wird.

Doch am Schreibtisch, im Büro der Wohnstättenleiterin, sieht das mitunter ganz anders aus. Durch die Einführung des Bundsteilhabegesetzes musste sich Petra Meyer-Eppa ein paar neue Vokabeln aneignen. Denn: „so gut und wichtig das BTHG auch ist, es bringt erheblichen Verwaltungsaufwand und Bürokratie für uns mit sich.“ Und eben auch Bezeichnungen wie Leistungsberechtigte, anstelle von Bewohner:in.

„So gut und wichtig das BTHG auch ist, es bringt erheblichen Verwaltungsaufwand und Bürokratie für uns mit sich."

Petra Meyer-Eppa

Im BTHG festgelegt ist, dass für Menschen mit Behinderungen nur noch ein Leistungsträger die Zuständigkeit für alle Teilhabeleistungen übernimmt. „Für unsere Bewohner:innen sind wir Leistungserbringer. Wir müssen gegenüber dem LWL, dem Leistungsträger, die benötigten Leistungen beantragen und nachweisen“, erklärt Petra Meyer-Eppa. Das klingt in der Theorie erst einmal nach einer Vereinfachung. „In der Praxis gestaltet sich das allerdings manchmal schwieriger. Zum Beispiel ist es uns jetzt nicht mehr möglich, eine neue Bankkarte mit und für einen unserer Bewohner zu beantragen. In der alltäglichen Arbeit und auch für die Selbstständigkeit der Bewohner:innen schränkt das natürlich ein.“ Was der Sozialpädagogin jedoch viel mehr Sorge bereitet ist die Tatsache, dass sie dem Leistungsträger gegenüber jetzt begründen muss, warum Bewohner:innen mit geringeren Beeinträchtigungen dennoch genau richtig in der Wohnstätte sind. Die in 2023 in Kraft getretene Reformstufe vier des BTHG hat zu einer Änderung des leistungsberechtigten Personenkreises geführt. „Es kann also im schlimmsten Fall passieren, dass Bewohner:in hier nicht wohnen bleiben dürfen, wenn sie zum Beispiel zu selbstständig sind“, sagt Petra Meyer-Eppa und runzelt nachdenklich die Stirn. „Unsere Befürchtung ist, dass wir hier eine Sammelstation für Menschen mit komplexen Behinderungen werden.“ Aus mehreren Gründen wäre das problematisch: „Um allen Bewohner:innen gerecht zu werden, benötigen wir eine gute Mischung aus Menschen mit mehr und mit weniger Unterstützungsbedarfen in den unterschiedlichen Bereichen. Wir fördern hier das selbstständige Leben. Eine Wohnstätte ist kein Pflegeheim“, erklärt Petra Meyer-Eppa. Mehr Bewohner:innen mit komplexeren Behinderungen bedeuten dann auch einen höheren Personalaufwand. 39 Mitarbeiter:innen, die meisten von ihnen in Teilzeit, sind in der Wohnstätte tätig. Wie in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit kämpft auch die Wohnstätte in Marl mit dem Fachkraftmangel. In Zeiten mit hohem Krankenstand wird es eng. „Und wenn wir dann viele Bewohner:innen mit einem sehr hohen Pflegebedarf haben, wird das natürlich schwierig“, sagt Petra Meyer-Eppa. Oftmals muss dann auf Zeitarbeitskräfte zurückgegriffen werden.

Es wird deutlich: Es ist nicht nur das BTHG, das die Mitarbeitenden der Wohnstätte beschäftigt. Fachkräftemangel, hohe Belastung, fehlende Wertschätzung – all das sind Themen die ebenfalls täglich präsent sind. „Da wäre es schön, wenn neue Gesetze entlasten und es nicht in der Umsetzung schwerer machen“, sagt Petra Meyer-Eppa. Dennoch versucht sie optimistisch zu bleiben. „Das liegt wohl daran, dass ich meinen Beruf als Berufung sehe“, sagt sie und lächelt.

INFO

Wohnstätte Marl
Petra Meyer-Eppa
Einrichtungsleitung
Rappaportstraße 15
45768 Marl
Tel.: 02365 9740910

Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.