Zukunftschance statt Kostenfaktor

Als im vergangenen Oktober mehrere Zehntausend Menschen auf den Rheinwiesen in Düsseldorf gegen die Kürzungen im Landeshaushalt demonstrierten, haben nicht nur Kita-Fachkräfte und Sozialarbeiter:innen ihre Plakate hochgehalten und ihren Unmut kundgetan. Auch Sonja Dittrich, Leiterin des Jugendmigrationsdienstes in Dülmen, und ihre Kolleg:innen aus den (Jugend-) Migrationsdiensten mischten sich unter die Teilnehmer:innen. Sie demonstrierten gegen eine Politik, die Migration als Kostenfaktor statt als Zukunftschance behandelt. Denn vor allem im Bereich der Migration sollte im Haushalt für 2025 gespart werden. „Kürzungen sind für uns ja schon nichts Neues mehr“, sagt Sonja Dittrich und seufzt. „Und jedes Mal machen wir uns Sorgen.“ Neben den tatsächlichen Kürzungen sind es vor allem die indirekten Kürzungen und die Planlosigkeit, die den Migrationsdiensten zu schaffen machen. „In der Migrationsberatung (MBE) und der sozialen Beratung von Geflüchteten in Nordrhein-Westfalen gibt es schon seit Jahren die gleichen Fördersätze für Migrationsberater:innen“, sagt Felix Groß. Der Fachbereichsleiter Beratungsdienste und Jugendsozialarbeit erläutert die dramatische Situation: „Aktuell bleiben viele Stellen unbesetzt, da die Träger schlicht und ergreifend keine Eigenmittel haben und auch keine anderen Fördermittelgeber einspringen können. Wir reden hier von einer Förderung, die so niedrig ist, dass Mitarbeiter:innen mit mehr als einem Jahr Berufserfahrung nicht mehr refinanziert werden können.“ Im Jugendmigrationsdienst, in dem Sonja Dittrich arbeitet, ist die Situation noch etwas stabiler – aber auch dort wird es eng. „Wenn Stellen nicht wiederbesetzt werden können, entfallen Fördermittel“, erklärt sie. Das bedeutet konkret: Weniger Gruppenangebote, weniger Chancen für junge Menschen, die gerade erst Fuß fassen. Denn die knapperen Mittel machten es notwendig, dass Gruppenangebote zugunsten von Personal reduziert werden mussten.
„Integration ist kein Selbstläufer. Sie braucht Räume, Personal, Engagement – und politische Weitsicht. Wer stattdessen den Rotstift ansetzt, riskiert nicht nur soziale Spannungen, sondern verspielt auch die Zukunft einer offenen, vielfältigen Gesellschaft.“
Zum Start der neuen Bundesregierung hat der AWO Bundesverband Anfang Mai mit 239 Organisation einen gemeinsamen Appell für eine verantwortungsvolle Migrationspolitik an die Abgeordneten gerichtet. Darin heißt es: „… Was es jetzt braucht, ist eine Migrationspolitik, die verantwortlich handelt, statt unsere offene und vielfältige Gesellschaft zu gefährden“. Sie rufen auf, nicht zu spalten, sondern die „tatsächlichen sozialen, politischen und finanziellen Ursachen […] anzugehen“. Mit diesen Forderungen können Felix Groß und auch Sonja Dittrich uneingeschränkt mitgehen. „Integration ist kein Selbstläufer. Sie braucht Räume, Personal, Engagement – und politische Weitsicht. Wer stattdessen den Rotstift ansetzt, riskiert nicht nur soziale Spannungen, sondern verspielt auch die Zukunft einer offenen, vielfältigen Gesellschaft“, sagt Felix Groß. Und nicht nur das: Deutschland braucht jährlich rund 1,5 Millionen Zuwanderer, um seinen Arbeitsmarkt stabil zu halten – das hat die Stiftung gegen Rassismus ermittelt. Und doch wird ausgerechnet bei den Integrationsangeboten gespart. „Sprache ist der Schlüssel“, sagt Dittrich. „Und was passiert? Die Förderung für Intensivsprachkurse wird gestrichen. Das ist kurzsichtig und gefährlich.“
Besonders hart trifft es die interkulturellen Zentren in Marl und Herten. Im „Haus der Kulturen“ und im Ernst-Reuter-Haus fallen mehr als 40 niedrigschwellige Kurse weg und dadurch auch die Fördermittel. „Das ist ein Verlust von über 40.000 Euro“, rechnet Felix Groß vor. „Und das sind nur unsere Zahlen. Landesmittel aus Programmen wie ‚KOMM AN‘ und der kommunalen Integrationsarbeit wurden ebenfalls zusammengestrichen. Es gibt schlicht keine Ausweichmöglichkeiten mehr.“
Dabei sind diese Angebote oft die erste Brücke in die Gesellschaft. Und sie erreichen genau jene Menschen, die besonders viel Unterstützung brauchen – sei es beim Lernen der Sprache oder beim Aufbau eines sozialen Netzes. „Migration wird immer als Makel angesehen“, sagt Dittrich. „Dabei gibt es so viele positive Beispiele.“ Etwa die OGS-Teamleiterin, die sie kürzlich auf der Regionalkonferenz angesprochen hatte. Die junge Frau gehörte zu eine der ersten Teilnehmerinnen, die Sonja Dittrich begleitet hat. Oder das Ehepaar, das einen Pflegedienst eröffnet hat, der nun in zweiter Generation erfolgreich weitergeführt wird. „Wenn ich solche Geschichten sehe, weiß ich: Unsere Arbeit verändert Leben. Aber wir brauchen dafür verlässliche Rahmenbedingungen.“
INFO
Beratungsdienste und Jugendsozialarbeit
Felix Groß
Ewaldstraße 118
45699 Herten
Tel.: 0176 16161065
Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.